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Blaue Blumen

Ausweitung (und Ausweidung) der Kampfzone: Eröffnung des Biergartens. Glückliche Greise in bunten G-Star-Shirts hocken auf holprigen Stühlen an wackligen Tischen und bedauern beim Anblick überirdischer Baumwurzeln die Krampfadern unter ihren Jeans. “Der Otto”, beginnt Skellington eine Anekdote während er unter der Hand einen Joint von den Ausmassen einer Schultüte dreht, “is ja bei uns Hausmeister. Ein Womanizer vor dem Herrn…” “Was ein Widerspruch in sich ist…”, unterbricht Becks Benny, scheitert jedoch im Unterfangen Aufmerksamkeit zu heischen an der lüsternen Lippenaura Skellingtons, den die Vorfreude auf das Erzählen seiner Geschichte attraktiv macht, so dass bunt gekleidete Zuhörer sich um ihn schließen wie Blätter einer Blüte, “…und jetzt hatte der seinen zweiten Frühling und wollte endlich unbedingt Pappa werden. Und wir sagen noch, Otto, sei nicht albern, so wie das bei Dir mit den Mädels läuft lässt Du die Mutter entweder im dritten Monat sitzen oder hast nach ein paar Wochen Babykotze und Gekreische so die Schnauze voll, dass Du den Planeten wechselst. Aber er pumpt eine auf, und angelt sich während seine Frau entbindet ne Krankenschwester. Streit und Zoff, ihm geht das Kind aufn Sack und nach ein paar Wochen ist Schluss mit lustig und er zieht aus. Während er seinen Krempel in Kisten packt kommt n Anruf und ne Stimme die er nicht kennt meldet sich und sagt: Hallo, ich bin Kevin. Und Otto: Kevin? Ich kenn keinen Kevin. Wer bist Du denn. Und Kevin antwortet: ich bin Dein Sohn. Da hat der Otto vor zwölf Jahren nach der Bundesliga einen weggesteckt, statt einem Kind hat er jetzt zwei und seit diesem Anruf kein Telefon mehr, schiebt voll die Paranoia von wegen Wunschleukämie, also Tod durch Übererfüllung.” Erst Schnappatmung, dann gelöste Stimmung. Man hat den fließenden und flüssigen Übergang von Dauerparty zu Totentanz längst verpasst, gelegentliche Schlaganfälle von Einsicht in die Dringlichkeit dem Abrutschen Einhalt zu gebieten werden ignoriert, es geht darum endlich frei zu sein, Access zum Exzess, der Vollrausch ist der Lohn der Angst, Lebenslust das Gegenteil von Gesundheitsvorsorge und wenn selbst Gott zu Botox greift um seine kosmische Kosmetrik aufzupeppen kann man ruhig Gas geben bis der Arzt zu spät kommt. Strothmann wird ein böses Ende nehmen, weil er kein Ende findet und alles nimmt was er kriegen kann, jetzt aber das Letzte obwohl das Letzte schon das Letzte war. “Is das nicht geil?”, greint die volle Lotte, deren Wangen leuchten wie Äpfel aus Wachs und deren Haare schimmern wie von Geistern bevölkerte Kupferdrähte, “statt im Mantel geht man im Sweat-Shirt vor die Tür und macht aufm Absatz kehrt weil es einem im Sweat-Shirt zu warm ist.” Durchschlafstörungen. Herzschmerzen. Kurzatmigkeit. Knötchenbildung im Bindegewebe, die morgendliche Verblüffung darüber seit Jahren keine Sperrstunde verpasst und die Pizza danach überlebt zu haben. Das muss doch irgendwann schief gehen, aber: kaum wird die Luft milder dünkt einen das Leben ohne tägliches Nahtoderlebnis sinnlos, der regelmäßige Vorsatz am nächsten Morgen blütenfrisch zur Arbeit zu erscheinen löst sich ebenso regel- mäßig in blauen Dunst auf, der über den Köpfen von Blitzschachspielern wabert, deren Bestreben um Schnelligkeit durch den klebrigen Film aus verschüttetem Bier behindert wird, der sich auf den zentralen Feldern des Brettes ausbreitet. Statt poofen zu gehen sitzt Doc Strothmann hier seine Niederlagen aus, versackt nach der Eisweinorgie der vorherigen Nacht zum zweiten Mal hintereinander mitten in der Woche bis zur Konferenz der Singvögel an der Shopacabana, umgeben von Germanistik-Studenten, Call-Center-Agenten und Schauspieler- innen, deren Jugend ein unüberwindlicher Abgrund ist. Qualitätsopfer und Kreuzfesselungen. Damenfang und Königsmarsch. Patt und Mattachon. Kontrollsucht führt zu Kontrollverlust. “Die Geschichte mit diesem Otto”, sinniert der Mann mit Prinzipien, “erinnert mich an den Esten, wie der nach drei Monaten Manöver nach Hause kommt und sie hat in der ganzen Bude Kerzen für ihn aufgestellt. Er kommt rein und fragt: Was los? Hast Du die Strom- rechnung nicht bezahlt? Überaschender Weise wurde die Beziehung umgehend beendet.” “Wo is der eigentlich? Verschollen in maurischer Wüste?” “Ne-e-e-e”, meckert heiter die volle Lotte, “der war vorgestern noch hier. Ich setzt mich mit Bierko an die andere Seite des Tresens und etwa nach 15 Minuten brüllt uns der Este aus dem Nichts, aus der Tiefe des sinnfreien Raums, quer durch die Kneipe an: Ihr versteht doch nix vom Schach! Dem geht`s also gut.” “Den Umständen die er macht entsprechend.” kommentiert Becks Benny. “Ich meine”, ergänzt Lotte, “er hat ja recht aber wen interessiert das?” Die Menschen wissen noch nicht wie sie sich anziehen sollen. Pärchen flanieren parlierend vorüber, hochsommerlich gekleidet. Freie Beine, tätowierte Oberarme. Ihre Wege kreuzen sich mit denen winterlich Gewandeter, die dem Braten nicht trauen, dunkler Mantel, Pudelmütze, Schal. Einige Schlauberger in kurzen Hosen und Hoodies mit Reißverschluss sind auch dabei. Eine erste Hummel torkelt in schwerfälligem Tiefflug umher, erreicht nur Schienbeinhöhe. Die Sonne versinkt hinter Häusern: “Ah, das war der Sommer”, gähnt Doc Strothmann behaglich-sarkastisch. Eben noch verschwenderisch hell verschwindet die gelbe Sau Knall auf Fall im kunterbunten Untergrund. Gabi wird kalt. “Darfs hier noch was sein?” erkundigt sich Robin Sun, eine dünne Firniss Freundlichkeit überdeckt ihr Desinteresse. Zwischen den von einem schwarzen Top bedeckten Brüsten ein Reißverschluss, leicht geöffnet, dessen Schlitten neckisch vor Strothmanns Augen schaukelt. “Ne ich geh rein”, nuschelt Strothmann, der ihre Frage unfair findet. Der Sonnenuntergang im Frühling ist ein kühles Trauerspiel, der Tisch löst sich auf, Lotte verliert einen Schal und denkt: ich raffs nicht. Unruhige Andockphase am Tresen, es dauert bis sich das setzt, die Nachtschicht aus notdürftigen Gästen und Gesten. Draußen klammern sich einige an die Biergartenplätze, bis ihnen der Bodenfrost zu Kopf steigt, sie in doppeltem Sinne blau ihr Handtuch auf den nächsten freien Barhocker werfen. Drinnen zunächst Schweigen im Aldi, weil der DVD-Player nicht funzt, einer muss den Anfang machen; dass es ausgerechnet ein Neuankömmling ist, der sich ungefragt als Fernsehverweigerer outet ist verdriesslich, aber besser als eine Verlegenheit, die jeder auch haben könnte wenn er alleine zu Hause bliebe und in die Röhre guckt: “Ich bin heute mit dem Vorsatz hier hin gekommen mich zu betrinken. Ich verrate Euch wieso.” Oh bitte nein…Erinnerungen an das Deutsche Mad: Leserbriefe die wir nicht lesen wollen. Lotte und Robin Sun unterhalten sich über ihre einschlägigen Erfahrungen mit Kerlen, die sich in Damenklos verdrücken. “Die sind so heiß auf ne Line, dass die sich den geriebenen Parmesan auf den Gnocchis die Nase hochziehen.” Nirgends arbeiten so junge Veteranen wie in der Gastro. Haben beim Warten aufs Studium alles schon gesehen, “vom Hurensagen!” intoniert die volle Lotte, Strothmann hört hin und versucht zu definieren, woran ihn ihre Betonung erinnert, kommt dabei aber nicht weiter als bis zu hart und zart, mittelalterliche Verkündung, sublimer Karneval, jeweils Kontraste von brachial und fragil, süffig und subtil, tätärätä - unbetont-betont- unbetont- betont - und hintergründigem Chillout, Proklamation und verschwörerischem Fisteln, Bass und Fagott, schweift dann ab zur Entwicklung von Apps für Selbstmordattentäter, denen auf dem Display gezeigt wird welche lohnenswerte Zielobjekte sich in der Nähe befinden, zur Erfindung des Geldes als Voraussetzung der Quantenphysik, zum Fremdwörtergebrauch bei Star Trek und damit zu hypnagogischer Regression (der Doktor), zu frittierten Synek- dochen und einem Parapsychologen namens Pim van Lümmel, zu Eibohphobie und zur Unschärfe von Aufenthaltsorten, ich bin ungefähr in Rechthaberlin. Die Zeit aast - die volle Lotte bringt nur noch Vokal- und Umlaute raus. Niemand weiß es, auch der Fischling/Frischling nicht, weil er die Geschichte mit den Schamhaaren auf der Oberkante des Urinals nicht kennt, aber so was kommt von sowas: Der Fernsehverweigerer verkrümelt sich auf die Toilette. Ihm ist ist kotzübel, und während er den Einfüllstutzen schon in der Hand hält stellt er sich auf Zehenspitzen und beugt sich weit vor, damit er einen grünen Kometenschweif zum Fenster hinaus speien kann, während er sich zugleich ins Becken ergießt und sein Schambein auf der Suche nach Kühlung an die Oberkante der Keramik presst. “Letzte Runde jetzt”, läutet Robin Sun den kleinen Tod des Säufers ein den man Feierabend nennt. “Das gilt auch für für Personal, dass hier 120% von dem versäuft, was es verdient.” Von den Schachzockern zunehmend hektisches Ohrfeigenklatschen von Zeitnot…”er besorgt es mir”…nuschelt der mit dem Spitznamen Wowi, der auf Gewinn steht und grundsätzlich Berliner Mauer spielt wenn der Weiße ihn lässt. Weil Frühling ist ist Strothmann kornblumenblau. Der Fernsehverweigerer hat sich bekleckert. Seine direkte Rede ist ein olfaktorisches Säureattentat: “Dieser eisige Ostwind”, erläutert er, “das war ne Verschwörung von Gazprom. Der Klimawandel ist ne Verschwörung von Gazprom, damit die an die Bodenschätze rankommen, während wir in sibirischer Kälte den Eislöffel abgeben.” Strothmann ist schwindelig, der grundlose Optimismus längerer Tage lässt ihn die Gleichgewichtsbeeinträchtigung als Schunkelgefühl erleben, aber Einhaken ist nicht, Robin Sun wird in Beschlag genommen von Deep Throat, der sie seinen auswärts gestülpten Magen fühlen lässt, “Ektopie…”, murmelt Strothmann ungehört während der Vomittler das Thema (leider nicht das Jackett) wechselt: “…keine Zeile mag ich mehr schreiben…gemessen an dem was die Zukunft bringt ist jede Fiktion müssig. Ein sterblicher Schriftsteller iss einfach nur…überflüssig.” Kontextfrei daher gesagt, Strothmann stimmt dem zu und notiert es sich dennoch. Absurd im Absud. “Mit der Notizfunktion eines iphone gegen eine bis an die Zähne bewaffnete Armee…” - das sagt er später an der Shopacabana zur sternhagelvollen Lotte, die nicht mehr nur lediglich Vokale spricht, sondern auch nur noch Vokale hört. Der Fernsehverweigerer erwacht morgens auf einer Couch in Anlehnung an Becks Benny, der - huch! - hochschreckt und fragt: “Was mach ich denn hier?” und der Verweigerer: “Woher soll ich das wissen?” “…und wessen Wohnung ist das eigentlich?” Strothmann widerum weiß nicht wessen Wohnung es ist, auf deren Toilettenschüssel er wach wird, aber ihm gefällt der Kindle als Scheißhauslektüre statt zerfledderten Zeitschriften. Strothmann ist schlecht, sein Herz hetzt im aussichtslosen Kampf gegen die Blutverklumpung, und seinen Kopf durchbohrt das Artefakt aus der Serie EUREKA. Seine Laune ist blendend. Vorfreude inmitten des Todeskampfes. Diesen Sommer noch. Nur noch diesen einen Sommer.