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Bouldern, Bridge, Ben Oni und Buchten

Nur Schreiben? Nur Lesen? Pfui Deibel. Gerne Bridge, Schach und Klettern. In die Luft gehe ich in Hallen, in denen Griffe und Tritte aus Kunststoff sind und nach Weingummi aussehen, aber lieber an den Felsen der Steilküsten von Sizilien. Mein bevorzugter Kontrakt beim Kartenspiel Bridge heißt "No Trump", was mein Unbehagen an der politischen Unkultur andeutet. Meiner Wut über die reaktionäre Renaissance, die algorithmengesteuerte Manipulation der öffentlichen Meinungen und darüber, dass Menschen, denen der Hungertod droht als Wirtschaftsflüchtlinge kein Recht auf Asyl haben entspricht meine bevorzugte Eröffnung beim Schach - Ben Oni bedeutet: “Sohn des Kummers”. Meine Vorlieben bedeuten jedoch nicht, dass ich am liebsten in senkrechten Wänden mit Seilpartnern Magnetschach spiele. Ich bin zu gerne unterwegs um etwas Bestimmtes am liebsten zu tun. 

Habe ich Fernweh, zieht es mich zu den schwarzen Stränden der Äolischen Inseln. Wie Ingrid Bergmann und Roberto Rosselini.

Bali-Kino

Filmplakate prägten mich, ehe mich Kino und Filme prägten. Bevor das Bali-Kino (Bali steht übrigens für Bahnhofslichtburg, nicht für die gleichnamige Insel) am Dortmunder Hauptbahnhof nur noch Schulmädchen-Reports und Sexfilme mit Heinz Fuchs zeigte, faszinierte mich das Plakat von einem Film, den ich erst sehr viel später im Fernsehen sah. Das Konterfei eines Cowboys mit einem Zigarillo im Mundwinkel. Meine erste LP war “Spiel mir das Lied vom Tod”, Musik zu einem Film, in dem Clint Eastwood überhaupt nicht mitspielte, aber das Plattencover zur LP war im selben Stil, mit denselben Brauntönen und harten Schatten gezeichnet, wie das Filmplakat von “Für eine Handvoll Dollar”. Es waren Zeichnungen, die mich ins Kino lockten, und es war ein Schwarz-Weiß-Film des italienischen Neorealismus mit Clint Eastwood als langweiliger, Clark-Kent-Brille tragender Ehemann, der mich empfänglich für den Reiz des “Gegen-den-Strich-Besetzens” von Rollen machte (und für den italienischen Neorealismus und somit für Roberto Rosselini). Es war - wenn ich mich recht entsinne (ich lüge…ich mußte es googeln…) - Vittorio de Sicas Episode “Ein Tag wie jeder Andere” aus Viscontis Episodenfilm “Die Hexen” von 1966 (Eastwood war bereits in de Sicas Klassiker “Fahrraddiebe” mit von der Partie, wie ich mich erin…ok…ich hab auch das gegoogelt). Film ist das Medium, das mich fesselt, das mich beschäftigt. Es nimmt viel Zeit in Anspruch - allein das Verfolgen mehrerer, parallel laufender Serien führt zu Vernachlässigungen von Ernährung und Körperhygiene in Ausmaßen, die eher für  Gamer typisch sind. In einer Zeit, die zunehmend auf die Eindringlichkeit von Bildern setzt, ist mein Medium der Produktion gleichwohl die Schrift. Die Kunst des Mangels. Kein Bild, kein Klang, kein Geschmack, keine Plastizität. Aber bildhaft zu schreiben, klangvoll zu schreiben, plastisch zu schreiben, so zu schreiben, dass der Leser Geschmack darin findet: das treibt mich.

 

Blutig und pleite kam ich, Hannes Oberlindober, 1962 zur Welt, in einem verträumten grünen Nest namens Dortmund. Erste Erfahrungen mit dem Medium “Telefon” sammelte ich als plärrendes Objekt eines genervten, schnauzbärtigen Fotografen, der den jungen Hannes in einem zu engen Matrosenanzug mit einem roten Plastiktelefon in der Hand und dem knallroten Hörer am Ohr ablichtete, so geschehen in einer “Pixie-Foto-Kabine” im Erdgeschoss eines weitläufigen Horten-Kaufhauses. Derart traumatisiert wuchs ich mich zu einem Erstklässler heran, der viel weinte und an den Ohren litt und sich schon früh lieber schriftlich, als mündlich ausdrückte. Nach ersten, episch breiten Schulaufsätzen, die regelmäßig mit “3″ bewertet wurden, weil die Lehrer sie gar nicht lasen oder nur überflogen, sollte es erst mit 22 Jahren zu einer ersten Publikation reichen – in der Depesche eines Schachvereins, dessen erste Mannschaft mit mir am vorletzten Brett in der Verbandsklasse vor sich hindümpelte.

Meiner Mitbewohnerin mit dem Tinnitus verdankte ich den Job, der meinem Leben eine unvermutete Wende gab – 1992 wurde ich Call Center-Agent und bekam reichlich Gelegenheit, mein Kindheitstrauma immer wieder aufs Neue zu reproduzieren. Sechs Jahre lang befasste ich mich mit dem Innenleben des Call Centers, mit tausenden von Kunden mit prägnanten passwords wie “Auto” und “Kevin”, mit hochambitionierten Dialogen (”Ihr Stichwort?” “Hamlet!” “Hmhm, ich nehme an Ihr Hund heißt so.” Kunde (fröhlich): “Genau. Woher wissen sie das?” “Erfahrung, langjährige Erfahrung. aber sagen Sie mal, wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, Ihren Hund Hamlet zu nennen?” Kunde: “Och. der Hund von meinem Nachbarn heißt genauso.”).

Um Folgeerscheinungen seiner schizoiden Haltung zur Telekommunikation im allgemeinen und zu Call Centern im besonderen zu kompensieren, veröffentlichte ich 2001 “Die globale Warteschleife” (discorsi-Verlag, Hamburg) ein Buch zum Thema Call Center, das sich auf die Sichtweise der Personengruppen konzentriert, die den Call Center-Dialog gestalten und dafür nie um ihre Meinung gebeten werden – die Agenten und die Kunden.

Das Thema Call Center ließ mich nicht los: Von 1999 bis 2017 war ich tätig als geschäftsführender Gesellschafter eines von mir mitgegründeten Call Centers. Der drohenden geistigen Verkümmerung durch den Trend der Branche Kommunikation mittels Produktion von Sprachhülsen zu einer industriell gefertigten minderwertigen Massenware zu reduzieren begegnete ich schreibend. 

2007 erschien beim Oktara-Verlag der Roman "Das Mandat des Kammerjägers". Zwischen 2007 und 2017 entstanden die Bieroglyphen als literarisches Warmsaufen für den 2019 beim projektverlag erschienenen Roman "Blauverschoben".

Von der Call Center-Welt habe ich mich gelöst. Seit 2018 lebe ich als freischaffender Autor in Bochum und auf Sizilien, wo ich arbeite, klettere und selten telefoniere.